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Nach den sehr philosophischen Ausführungen Herr Professor Pellegrino über fundamentale ethische Aspekte werde ich meinen Beitrag mehr politisch aufziehen. Ich werde darstellen, in welcher Situation wir uns befunden haben, in welcher Position wir derzeit sind und was uns noch bevorsteht. Dabei wird sich zeigen, wie wir uns als Ärztinnen und Ärzte werden bewegen müssen und wie wir selbst dazu beitragen können, dass es - um es vorsichtig zu sagen - nicht gerade so schlimm kommt.
Bisher haben wir in Deutschland ein sehr freiheitliches Gesundheitswesen. Es basiert auf verbrieften Freiheitsrechten. Es gibt Niederlassungsfreiheit für die Gesundheitsberufe, Patienten haben freie Arztwahl und die Versicherten seit einigen Jahren freie Krankenkassenwahl. Die Ansprüche der Patienten an das System sind nach wie vor einklagbar. Darin unterscheiden wir uns grundlegend von anderen Ländern, wo man, wenn Leistungen verweigert werden, sein Recht eben nicht vor einem Sozialgericht geltend machen kann.
Systemsteuerung von oben - Schritt für Schritt
Allerdings hat sich auch in Deutschland etwas geändert. Im Zuge der langjährigen Debatte über die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen kam es sukzessive zu einer Einengung dieser Freiheiten. Es gab Einschnitte, Stück um Stück, ohne dass das richtig bemerkt wurde. Der frühere Bundesausschuss von Ärzten und Krankenkassen, der das Recht hatte festzulegen, was die gesetzliche Krankenversicherung im ambulanten Sektor bezahlt und was nicht, setzte dem Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) klare Grenzen.
Einen echten Leistungskatalog hat es bisher in Deutschland nicht gegeben. Die Patienten haben als Vertragspartner einer Krankenversicherung, einer gesetzlichen oder einer privaten, Ansprüche an diese Versicherung. Die Ärztinnen und Ärzte haben das Recht, mit diesen Ansprüchen umzugehen, genau so wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist natürlich eine ärztliche Angelegenheit, die Ansprüche eines Patienten zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren. Das ergibt sich aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis und war in der Vergangenheit eine funktionierende Angelegenheit. Die Summe aller dieser Patient-Arzt-Interaktionen und der dabei erbrachten Leistungen stellte dann einen virtuellen Leistungskatalog dar.
Die Zeit dieser Art Systemorganisation ist, wie wir noch sehen werden, wohl endgültig vorbei. Wir werden eine andere Struktur bekommen. Das ist politisch gewollt. Die Politik folgt ihren Beratern, die im wesentlichen aus dem Feld der sogenannten Gesundheitsökonomie stammen. Die Gesundheitsökonomie hat in anderen Ländern, wie den Vereinigten Staaten von Amerika, den Niederlanden und anderen Nachbarländern, zumal in den skandinavischen Ländern, schon früh eine stärkere Stellung eingenommen. Mittlerweile dominiert sie überall. Es wird nicht mehr als volkswirtschaftlich sinnvoll empfunden, daß Patient-Arzt-Entscheidungen zu Lasten einer Gemeinschaftseinrichtung wie der gesetzlichen Krankenversicherung so frei bleiben können, wie dies in Deutschland bisher der Fall war. Hier wünscht man sich erheblich mehr Steuerung und Einfluss auf das Leistungsgeschehen.
Dieser Mentalitätswechsel in der Politik hat - noch in sehr kleinen Schritten - im Jahre 1991/92, in der Seehofer-Ära, eingesetzt. Ein wichtiger Parameter des Gesundheitswesens, nämlich die Niederlassungsfreiheit in freier Praxis, wurde eingeschränkt durch die sogenannte Bedarfsplanung. Darauf folgte die durch das damalige Gesundheitsreformgesetz festgelegte Pflicht für alle Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Sektor, in der kassenärztlichen Versorgung eine Facharztbezeichnung nachzuweisen. Ärzte konnten demzufolge in diesem Sektor ohne Facharztbezeichnung nicht mehr als praktische Ärzte tätig werden. Und die gesetzliche Krankenversicherung wurde aus der bis dahin festgefügten Situation einer rein solidarisch finanzierten, aber noch stark auf dem Boden des karitativen Gedankens arbeitenden Einrichtung, in einen nicht näher definierten Wettbewerb geschickt. Der Kassenwettbewerb wurde im Gesetz verankert. Das hat sich am Anfang noch relativ wenig, dann aber immer deutlicher auf das Gesamtsystem ausgewirkt. Auf die Folgen werde ich noch eingehen.
Aushöhlung des Vertrauens
Das Grundproblem der Finanzierung unseres Gesundheitswesens, das brauche ich hier nicht ausgiebig zu wiederholen, sind der demografische Wandel einerseits und die Möglichkeiten der Medizin andererseits. Das Angebot und die Inanspruchnahme werden immer größer und dadurch die Finanzierung des Ganzen immer problematischer. Weil das so erkannt worden ist, und weil die deutsche Bevölkerung mit unserem Gesundheitswesen in den 90er Jahren und auch noch zu Beginn des neuen Jahrzehnts bei allen Umfragen hochzufrieden war, und weil das Vertrauen in die Gesundheitsberufe bei der Bevölkerung sehr hoch war, ist eine Kampagne in Gang gesetzt worden, die den Sinn hatte, diese Grundeinstellung zu unserem Gesundheitswesen in der Öffentlichkeit zu erschüttern. Das ist auch weitgehend gelungen. Alle Beteiligten werden sich erinnern, dass wir am Ende der 1990er Jahre und am Anfang dieses Jahrzehnts eine intensive Debatte über das Thema Qualität in unserem Gesundheitswesen bekommen haben, die schließlich in die Behauptung mündete, das deutsche Gesundheitswesen biete als typische Merkmale Über-, Unter- und Fehlversorgung.
Was nicht gewürdigt wurde: Deutschland hat ein Gesundheitswesen, das praktisch eine Normalversorgung gewährleistet. Das Gesundheitswesen sei, hieß es nun, dadurch gekennzeichnet, dass eben zu viel und häufig das Falsche stattfinde. Sie kennen den oft zitierten Spruch: Wir bezahlen einen Mercedes und kriegen einen Golf. Das hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Begleitet wurde dieses kampagnenähnliche Vorgehen durch Korruptionsvorwürfe an die Adresse der Ärzte. Dies seien, hieß es, typische Merkmale des deutschen Gesundheitswesens. Auch in internationalen Vergleichen, mit einer allerdings sehr zweifelhaften wissenschaftlichen Basis, hatte das deutsche Gesundheitswesen eine ausgesprochen schlechte Position, so in den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation und der OECD. In der Weltgesundheitsorganisation lagen wir auf Platz 25 hinter Kolumbien. In der OECD wurden wir relativ weit nach hinten platziert, weil die Lebenserwartung unserer Bevölkerung, gemessen am Anteil der Aufwendungen für das Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt, zu kurz sei. Die besten Gesundheitssysteme in Europa müßten diesen Berechnungen zufolge Portugal und Griechenland haben, weil diese beiden Länder die langlebigsten Bevölkerungen haben.
Die OECD und die WHO haben mittlerweile von ihren Statistik-Denkmodellen Abstand genommen, weil ihnen klar geworden ist, daß das alles so nicht stimmen kann. Es hat aber nichts genützt. In unserem Land hat es den Boden bereitet für die Diskussion um eine fundamentale Neuordnung unseres Gesundheitswesens. Mit der haben wir es jetzt zu tun. Ein wesentlicher Grund für diese Situation, so wurde politiknah begutachtet, sei gewesen, daß insbesondere die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte als Schlüsselfiguren in unserem Gesundheitswesen unterqualifiziert seien. Das liege unter anderem daran, daß sie sich nicht regelmäßig fortbildeten. So wurde das nun intensiv, fast marketingartig in der Bevölkerung verbreitet. Es war schon merkwürdig, wie da Gegensätze aufeinander prallten: hier die veröffentlichte Meinung mit der Botschaft von der Unter- und Fehlversorgung, dort die Umfrageergebnisse aus der Bevölkerung, welche besagen: "Wir sind zufrieden, wir bekommen das, was wir möchten, wir fühlen uns geborgen, wir brauchen nicht zu warten wie in anderen Ländern".
Auf dem Boden dieser politischen Grundstimmung gedieh dann gleichwohl ein Politikwechsel, zu datieren an den Anfang dieses Jahrzehnts. Die neue Politik - und zwar von Regierung und Opposition, die gemeinsam diese Gesetzgebung getragen haben - lässt eindeutig erkennen, dass sie wesentliche Elemente steuerfinanzierter Gesundheitssysteme nach Deutschland übertragen will.
Zu Lasten des Patienten
Der wichtige Punkt hierbei ist, daß in solch steuerfinanzierten Gesundheitswesen der Patient gegenüber dem System keine Ansprüche hat. Ihm werden Leistungen zugeteilt und er muß mit dem Zugeteilten zufrieden sein. Wenn er mit dem Zugeteilten nicht zufrieden ist, dann hat er die Möglichkeit, vor den Petitionsausschuss oder andere Beschwerdeinstanzen zu gehen. Die können ihn anhören oder auch nicht. Aber auf jeden Fall hat er nicht wie bisher bei uns in Deutschland die Chance, Ansprüche an das System, die nicht befriedigt werden, einzuklagen. Und zwar bei Sozialgerichten. Nicht wenig von dem, was an Betreuung von Patienten in Deutschland gewährt wird, ist ja erst zum Anspruch geworden, weil ein Sozialgericht gesagt hat, daß diese oder jene Leistung, die an sich verweigert werden sollte, gewährt werden muß, entweder für einzelne Individuen oder für eine größere Population oder für alle, die betroffen sind.
Dieser Klageweg ist natürlich für jemanden, der durchsteuern will, was sich im Leistungsgeschehen abspielt, ein schlimmer Zustand. Denn damit ist seine Steuerungsmöglichkeit höchst begrenzt. Immer reden andere mit hinein. Also muss man sich etwas einfallen lassen, um dieses Instrument zu kappen. Wie das im Einzelnen geschehen soll, sage ich noch.
Ein zweiter Punkt: Das deutsche Gesundheitswesen unterscheidet sich von anderen Gesundheitswesen dadurch, daß wir neben der sogenannten Makroebene der Politik - jetzt benutze ich Ausdrücke von anderen Professionen - und der Mikroebene, der individuellen Patient-Arzt-Beziehung, eine sogenannte Mesoebene haben. Diese Mesoebene ist die Selbstverwaltung. Die Krankenkassen gehören zu dieser Selbstverwaltung, die Leistungserbringer gehören zu dieser Selbstverwaltung. In dieser Szene der Selbstverwaltung erfolgte unter politischen Vorgaben jahrzehntelang die Ausgestaltung der Abläufe in unserem Gesundheitswesen, die Feinjustierung. Unter ziemlich allgemeinen Vorgaben durch den Gesetzgeber hat diese Mesoebene selbständig agiert. Wenn man von oben durchsteuern will, muss man, damit diese Durchsteuerung gelingt, diese Mesoebene in eine andere Situation bringen.
Weg in die Staatsmedizin?
Am liebsten hätte die Politik in den Jahren 2002/03 die Mesoebene völlig ausgeschaltet. "Die Kartelle müssen abgeschafft werden!", hieß es allenthalben. Gemeint waren nicht die Kassen mit ihren exorbitant hohen Verwaltungskosten, sondern die Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie gehören zu den typischen Merkmalen dieser Mesoebene. Es handelt sich um Körperschaften des Öffentlichen Rechts, die - wie die Juristen sagen - für untergesetzliche Normgebung zuständig sind. Die Kassenärztlichen Vereinigungen existieren auf Wunsch des Staates unter gesetzlichen Vorgaben des Staates. Das gilt auch für die Strukturen. Sie ganz abzuschaffen, hätte die Entfernung der kollektiven Organisationsform dieser Leistungserbringungs-Einrichtungen bedeutet. Das war das Generalziel. Dazu ist es nicht gekommen. Die gesetzlich verordnete Organisationsreform der KVen hat aber dazu geführt, daß sie stärker als bisher vom Gestalter zum Verwalter von Ärzte-Interessen mutieren.
Die Idee zu dieser Neuordnung stammt aus der Beraterszene. Die Politik hat sie aufgegriffen, ohne die Folgen wirklich zu überschauen. Die Idee läuft darauf hinaus, unser Leistungsgeschehen staatlich zu steuern. Staatssekretär Dr. Klaus-Theo Schröder scheut sich nicht, den Ausdruck "Staatsmedizin" zu verwenden, selbst wenn man ihm sagt, welche trübe Vorstellung ein solches Wort beim Empfänger auslöst. Was darunter verstanden wird, sagt er nach wie vor: Jawohl, wenn etwas nicht so läuft, wie wir das wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass es so läuft, indem wir uns durchsetzen. Ebendies heißt ja Staatsmedizin: Der freiheitliche Charakter des Gesundheitswesen, geprägt durch Staatsferne einerseits und Selbstverwaltung andererseits, geht verloren.
Das wohl prägnanteste Beispiel für die Umsetzung dieser Strategie war die Idee des Staatsinstituts für Qualität. In Anlehnung an das National Institute for Clinical Excellence in Großbritannien (NICE) wollte die Regierung ein staatliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit weit reichender Steuerungsfunktion etablieren, sozusagen eine externe Einrichtung des Bundesgesundheitsministeriums, also eine staatliche Regierungsorganisation. Es sollte auch ein staatlicher Korruptionsbeauftragter ernannt werden. So etwas gibt es in keiner anderen Branche in Deutschland. Ich wüsste vielleicht Branchen, wo das nützlich wäre. Im Gesundheitswesen habe ich das bisher nicht so empfunden. Ferner wollte man eine staatlich gestaltete und kontrollierte, vielleicht zwar nicht behördlich durchgeführte, Fortbildung der Gesundheitsberufe, namentlich von Ärzten. Und viertens stand eine komplette Entfernung von freiberuflich tätigen Fachärzten auf dem politischen Wunschprogramm - zugunsten staatlicher Organisationsstrukturen der sogenannten Facharztebene. Das waren die vier ursprünglich angedachten Kernelemente, die auch immer noch nicht völlig vom Tisch sind.
Durch die Große Koalition, die sich beim Zustandekommen der Gesundheitsreform de facto gebildet hatte, kam es, das muss man wohl sagen, zu einer Eindämmung der staatsmedizinischen Pläne. Gleichwohl müssen wir feststellen, dass ein stärkerer staatlicher Einfluss unverkennbar ist. Die Ziele sind ja unverändert. In diesen Tagen hören wir: "Lohnnebenkosten-Dämpfung ist das wichtigste Ziel unserer Gesundheitspolitik". Das Ziel der Beitragssatzsenkung überlagert alles andere. Was dabei aber für die Versorgung der Patienten herauskommt, werden wir erst nach und nach erleben. Nur langsam wird der Öffentlichkeit bewusst, dass diese Politik Leistungskürzungen und Rationierung nach sich ziehen muss.
Kaum bemerkt wird, dass das GKV-Modernisierungsgesetz zum Zwecke der Kostendämpfung zwei ganz wichtige Elemente enthält, deren Auswirkungen sich erst nach und nach zeigen werden. Das eine Element ist eine Verknappung des Leistungsangebots. Man zieht Strukturen ein, die es erschweren, sich in dem System zurechtzufinden. Die von uns als Ärzteschaft prinzipiell für richtig gehaltene hausarztbasierte Primärversorgung ist das eine. Die haben wir immer für richtig gehalten. Sie wird nun zunächst einmal durch Anreizmodelle implementiert. Hat man sich daran ein bisschen gewöhnt, wird daraus eine Verpflichtung. Vorbilder sind Dänemark, die Niederlande, und mit Abstrichen auch Großbritannien. In Dänemark wurden Anreizsysteme geschaffen. Die finanziellen Anreize sind so stark, dass die Leute mehr oder weniger "freiwillig" zunächst zum Hausarzt gehen. Deshalb bedarf es in Dänemark keiner Vorschrift.
Konzentration - weniger Angebot - Rückzug des Staates - Merkantilisierung
Der zweite Punkt, der bei der Beurteilung der Gesundheitsreform oft vernachlässigt wird, ist die stärkere Konzentration der fachärztlichen Versorgung in Krankenhäusern, die damit praktisch das gebündelte fachärztliche Gesamtangebot bereitstellen. Nur dort, wo sich das nicht lohnt, weil ein Krankenhaus in der Gegend nicht existenzfähig wäre, darf der niedergelassene Facharzt auch allein existieren. Diese Aufweichung der ambulanten fachärztlichen Versorgung geschieht durch die Institutionalisierung, die sich zum einen auf dem Wege über die sogenannte integrierte Versorgung vollzieht, zum anderen durch die Einführung von medizinischen Versorgungszentren, die man auch poliklinikartige Ambulatorien nennen könnte. Vorbilder sind etwa Schweden oder die Niederlande. Im Fadenkreuz steht die fachärztliche Breitenversorgung, die wir in Deutschland hatten oder noch haben und die zugegebenermaßen wirklich hochkarätig ist. Wir haben seit den späten 1970er Jahren in Deutschland eine ambulante Fachebene aufgebaut, die flächendeckend und wohnortnah in der Lage ist, die komplette fachärztliche Versorgung darzustellen. Das war manchen Leuten schon immer ein Dorn im Auge.
Wenn dieses Angebot reduziert wird und nur noch Orthopäden, Augenärzte, Gynäkologen, nicht operierende Urologen als niedergelassene Fachärzte in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen übrigbleiben, heißt das, dass es den Rest der fachärztlichen Medizin nur noch an Institutionen geben wird, insbesondere die operativen Fächer und die subspezialisierte konservative Medizin.
Ein weiterer Punkt: Die Leistungserbringungs-Einrichtungen werden zunehmend privatisiert. Wir haben in Deutschland als Freiberufler zwar niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Apotheker usw., die für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. Sie leben aber sozusagen unter staatlicher Oberbeobachtung, unter Supervision. Der Gesetzgeber muss - bzw. die von ihm beauftragten Organe wie z.B. die Körperschaften müssen - eingreifen, wenn hier irgendwo ein Leck entsteht.
Ein typisches Beispiel ist unsere Krankenhauslandschaft. Wir haben in den späten 1960er Jahren in Deutschland das Grundgesetz geändert, damit der Bund die Zuständigkeit dafür erhielt, ein Krankenhausgesetz zu erlassen. Daraufhin wurde die Bundesrepublik Deutschland flächendeckend mit einer Krankenhauslandschaft überzogen, die so ausgerichtet war, dass jeder innerhalb von 15 Minuten das für ihn oder sie gegebenenfalls nötige Bett erreichen konnte. Dadurch ist die hohe Bettenzahl zustande gekommen. Natürlich erklärt sich so auch die Nutzung der Krankenhäuser. Das wird jetzt radikal abgeschafft - schon durch die diagnosis-related-group-Vergütung, das System der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen, das in dem letzten Gesetz bereits Anfang dieses Jahrzehnts in die Wege geleitet worden ist.
Dieses Vergütungssystem, nach dem schließlich 90% der Behandlungen abgerechnet werden sollen, wird unsere Krankenhauslandschaft radikal verändern. Wir werden Krankenhäuser mit angemessener Ausstattung nur noch dort haben, wo sich das auch rechnet. Wir werden also nicht mehr etwas vorhalten, was zur Daseins-Vorsorge gilt, sondern nur noch etwas vorhalten, was betriebswirtschaftlich auch tatsächlich erfolgreich ist. Denn der Staat wird sich aus diesem Engagement sukzessive zurückziehen.
In diesem Bereich wechseln wir also vom Feuerwehrprinzip zu einem Kosten-Nutzen-basierten Prinzip. Die Folge wird eine starke Kommerzialisierung im Krankenhaus-Sektor sein. Wo der Staat sich aus dieser Szene zurückzieht, werden shareholder, Aktiengesellschaften oder andere Träger sich einklinken, die wissen, wo sie damit Geld verdienen können.
Das alles spürt man jetzt schon sehr deutlich. Die profitorientierten Organisationsformen nehmen kräftig zu. Sie sind auch diejenigen, die sich am meisten für die Gründung von medizinischen Versorgungszentren und integrierte Versorgungsformen interessieren. Ich vermute, dass wir in 10-15 Jahren eine Landschaft haben werden, in der das Ganze stark kommerzialisiert ist und in unserem Gesundheitswesen der karitative Gedanke, die Mildtätigkeit, wenn überhaupt, eine nur noch minimale Restrolle spielen wird. Das ganze System wird stark vom Kosten-Nutzen-Denken geprägt sein.
Für unseren Beruf wird das bedeuten, daß die schon längst begonnene Merkantilisierung des Arztberufes zunehmen wird, insbesondere dann, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht nur als Angestellte arbeiten, sondern wenn sie selbst Mitspieler sein wollen, was ja nicht ganz selten vorkommt. Dann müssen sie, um mit denen konkurrieren zu können, die Kapital mitbringen, diese Denkungsart annehmen und sich merkantil orientieren. Mit anderen Worten: Wir wechseln vom Gesundheitswesen als einem Teil der Sozialpolitik in ein Gesundheitswesen, das dem Ressort Wirtschaftspolitik zuzuordnen ist. Noch heißt es, Gesundheitswirtschaft sei eine Teilmenge des Gesundheitswesens. Die Teilmenge wird aber immer größer und der Tag, an dem Gesundheitswirtschaft die Gesamtmenge sein wird, ist nicht mehr fern.
Ein weiterer großer Vorgang in unserem Gesundheitswesen, der mich persönlich sehr beunruhigt, ist die zunehmende Programmierung der Versorgung von Kranken. Wir wissen, dass nicht jeder, der sich krank fühlt, eine Diagnose hat, wie man so schön sagt. Es gibt niedergelassene Allgemeinärzte, Hausärzte, die mir sagen, 80% ihrer Patienten haben eigentlich nichts, was man einer geordneten, wissenschaftlich abgesicherten Diagnose zuordnen kann. Trotzdem macht sich bei uns ein Gedankengut breit, das aus der Gesundheitsökonomie herkommt und davon ausgeht, dass man das, was zwischen Patienten und Ärzten passiert, das Leistungsgeschehen, programmieren, in Programme aufteilen und Programmen zuordnen kann.
Standardisierte Behandlung unter staatlicher Aufsicht
Das ist etwas anderes als uns früher Lehrbücher gelehrt haben. Es hat auch mit der Idee von Leitlinien nicht viel zu tun. Es ist eine ganze andere Denkrichtung: Man steckt die Patienten in "Kästen". Schon das diagnosebezogene Fallpauschalensystem mit derzeit ca. 800 DRGs ist ein Symptom dieser Denkrichtung. Das heißt letztlich: Es gibt etwa 800 Begründungsmöglichkeiten für den Aufenthalt von Patienten in Krankenhäusern. Dieses Denken macht sich enorm breit und bedeutet, dass wir nach und nach solche Programme zu kreieren bzw. evtl. existierende zu implementieren und zu sanktionieren haben. Das ist auch eine wesentliche Aufgabe des jetzt nicht mehr staatlichen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das von der Selbstverwaltung getragen wird, die aber immer mehr Gefahr läuft, zur Auftragsverwaltung zu werden.
Das wiederum führt übrigens unweigerlich dazu, dass in Deutschland diese Behandlungsprogramme, wenn sie akzeptiert werden sollen und Wirkungen innerhalb des Finanzausgleiches der Krankenkassen entfalten sollen, zur Folge haben, daß die Krankenbehandlung von Menschen durch Rechtsverordnung geregelt wird. Die Disease-Management-Programme, die wir haben - für Diabetiker und für Mammakarzinom - basieren auf einer Rechtsverordnung. Was da stattfindet, ist deshalb als Rechtsverordnungs-Medizin zu bezeichnen. Diese Form des Denkens über die Patient-Arzt-Beziehung nimmt, wie gesagt, immer mehr zu und bedeutet, dass - zugespitzt gesagt - unsere Patient-Arzt-Kontakte der Zukunft regelrecht konfektioniert werden.
Eine zusätzliche Sorge bereitet mir die Entwicklung dieser konfektionierten Disease-Management-Programme, wenn sie nach wie vor auf dem umständlichen Verfahren einer Rechtsverordnung umgesetzt werden. Das birgt die Gefahr, dass die Erneuerung, die Weiterentwicklung sehr langsam geschieht und die wissenschaftliche Entwicklung auf der Welt den Programmerneuerern davonläuft. Die Programme geraten dann in eine Art abgeschlossenen Käfig, werden regelrecht kaserniert und können sich nicht vernünftig weiterentwickeln. Das ist eine zusätzliche mehr wissenschaftliche Sorge.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass wir als Ärztinnen und Ärzte in einer völlig neuen Welt leben, in der von dem, was wir aus der Vergangenheit her kennen, von der Freiheit unserer Berufsausübung, den Möglichkeiten, die sich auch dadurch ergaben, dass Schulen miteinander konkurriert haben, um den besten Weg zu finden, einiges nach und nach verloren geht und immer mehr der Steuerung unterliegt. Das bedeutet auch, dass wir die Freiheit immer mehr einbüßen, Patienten Alternativ-Vorschläge zu machen, ihnen sogar zu raten, andere Ärzte aufzusuchen, oder in der dualen Patient-Arzt-Beziehung das auszuwählen, was wir in dem individuellen Fall für das Richtige und das Akzeptierte halten.
Über Medizin neu nachdenken
Wir Ärzte sind nicht ganz schuldlos an dieser Entwicklung. In der Vergangenheit haben wir vielleicht der Öffentlichkeit zu sehr den Eindruck vermittelt, dass die Medizin in dieser Form ausgeübt werden könne, weil die Medizin den Naturwissenschaften doch so ähnlich sei. Die nichtmedizinischen Naturwissenschaftler haben aus ihrer Profession heraus ein starkes Organisationsbedürfnis und konnten deswegen der Politik Angebote zum Organisationsschema machen. In Analogie dazu mögen wir zu sehr den Eindruck vermittelt haben, auch unser Gesundheitswesen sei auf diesem Wege finanziell, ökonomisch-wirtschaftlich zu steuern. Auch mit der Leitlinien-Diskussion in der Form, wie wir sie geführt haben, dürften wir m.E. sehr dazu beigetragen haben, dass sich diese Meinung in der Öffentlichkeit entwickeln konnte: mit den etwas apodiktischen Meinungen darüber, was Leitlinien für einen Sinn haben und was sie leisten können.
Jetzt halte ich es für unsere Aufgabe, darüber zu diskutieren, was Medizin eigentlich ist. Ich habe das jüngst bei der Eröffnung sowohl des Internistenkongresses als auch des Chirurgenkongresses schon gesagt und seitdem noch viel dazugelernt. Der Versuch, eine Diskussion zu entfachen über den Medizinbegriff und das, was Medizin und Patient-Arzt-Beziehung eigentlich sind, wäre auch für die Politik brauchbar und als Rüstzeug nützlich für den Kampf mit den Gesundheitsökonomen.
Gegenüber der noch auf den genannten Kongressen in Berlin und Wiesbaden vorgetragenen Definition der Medizin lautet die inzwischen weiterentwickelte Version jetzt:
"Medizin ist eine Human-, eine Erfahrungswissenschaft, die sich auch der Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaften, z.B. der Naturwissenschaften, der Biowissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Geisteswissenschaften, hier besonders der Philosophie und der Psychologie bedient, sich aber mit jeweils mehr oder weniger - (und das ist jetzt sehr wichtig) - nur wahrscheinlich richtigem Wissen, natürlich je nach Fach unterschiedlich ausgeprägt, umgehen muss, wobei bei allen individuellen Entscheidungen sowohl bei den Patienten als auch bei den Ärzten Wertungen eine wichtige Rolle spielen."
Neben einer Klärung, was Medizin ist, müssen wir darüber diskutieren, welche Funktionen Leitlinien haben. Für mein Empfinden sind Leitlinien eine Hilfe bei der Fortbildung, sogar eine sehr große Hilfe, um aus dem Riesenwust dessen, was sich in der Welt alles tut und publiziert wird, das herauszufiltern, was für die konkrete Situation wichtig ist und was der medizinischen Arbeit zugrunde liegen soll.
Wie schwierig das mit dem nur wahrscheinlichen Wissen in der Medizin ist, darf ich Ihnen an einem Beispiel erläutern: Ich bin Pathologe, habe aber, damit kein Irrtum entsteht, mit Toten nichts mehr zu tun. Das Fach hat sich völlig verändert. Ich bekomme Gewebe von der Haut, aus dem Magen, aus der Leber oder sonst woher, und mache anhand dieser Gewebe eine Beurteilung, die dem Arzt am Krankenbett oder in der Praxis helfen soll, die richtige Diagnose zu stellen und die Behandlung des Patienten zu gestalten. Da gibt es etwa den schwarzen Hautkrebs. Und nun sollte man ja eigentlich meinen, daß der Pathologe durchs Mikroskop schaut, sieht und sagt: Das ist es! Und also ist es das auch. Man könnte es ihm zwei Wochen später wieder vorlegen, und er würde wieder dasselbe sagen: Das ist es! Und wenn man es einem anderen entsprechend kundigen Kollegen vorlegte, werde auch er sagen: Das ist es! Das aber ist weit gefehlt. So ist es keineswegs. Es gibt eine Arbeit - nicht ganz neu, aber immer noch gültig - über 38 Fälle von schwarzen Hautflecken, die schwierig zu diagnostizieren waren. Die Präparate waren an die fünf besten auf die Diagnose "schwarzer Hautkrebs" spezialisierten Dermato-Pathologen auf allen Erdteilen geschickt worden. Diese fünf Spezialisten hatten sich nur in 11 von den 38 Fällen einigen können, ob es sich um eine bösartige oder um eine nicht-bösartige Neubildung handelt. Wortgleich war die Diagnose in keinem einzigen Fall.
Für einen Außenstehenden, für einen Patienten handelt es da doch um einen an sich klaren Fall, wo der Arzt sagen müsste: Das ist bösartig oder das ist gutartig. Wenn nun schon da solche Differenzen möglich sind, wie will man dann Konfektionsmedizin in solchen Fällen machen, die viel weniger klar sind. Deshalb müssen wir m.E. viel deutlicher herausstellen: Medizin ist etwas anderes als es derzeit im Bewusstsein unserer Bevölkerung, insbesondere der Entscheidungsträger verankert ist. Das ist das eine. Und das andere: Die Patient-Arzt-Beziehung ist etwas anderes als ein Reparaturbetrieb.